Die Verlaufseintragungen in den Krankenakten wurden maschinen- oder handschriftlich geführt. Das Lesen der handschriftlichen Akten in Sütterlin bereitet manchmal Schwierigkeiten. Falls es sich um umfangreiche Akten handelt, die Sie gerne lesen möchten, kann es Sinn machen, sich in die Schrift einzuarbeiten. Es gibt etliche Kurse oder Sie versuchen es im Selbstlernstudium. Für kürzere Texte können Sie auch einen Transkriptionsdienst in Anspruch nehmen.
Bei den Opfern der „Aktion T4“ ist klar, dass sie Opfer der NS-„Euthanasie“ geworden sind. Auch bei den Opfern der „Kinderfachabteilungen“ ist das häufig am Stempel R.A. auf der Krankengeschichte erkennbar, der belegt, dass das Kind in den sogenannten „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ aufgenommen worden ist. Dennoch können Fragen auftauchen wie beispielsweise nach der Bedeutung der Diagnose oder warum gerade der Angehörige ein Opfer geworden ist.
Bei den Tötungen in den Anstalten selbst haben die Ärzte das Geschehen und die wahre Todesursache verschleiert. In keiner Akte steht explizit, dass jemand ermordet worden ist. Es muss also gedeutet werden, ob schädigende Einflüsse wie Nahrungsentzug, überdosierte Medikamente oder Vernachlässigung zum Tod führten.
Auf überdosierte Medikamente weist häufig die Todesursache Lungenentzündung hin, ein Tod infolge Nahrungsentzug wird vielfach durch eine Tuberkulose angezeigt. Aber es kann auch natürliche Tode mit der Todesursache Lungenentzündung oder Tuberkulose geben, daher sind noch weitere Aspekte wichtig. Beispielsweise die Selektionskriterien, die für die Opfer der „Aktion T4“ wissenschaftlich ermittelt worden sind und die wohl auch für die Opfer der dezentralen „Euthanasie“ galten: Arbeitsfähigkeit, Pflegeaufwand, Verhalten und familiäre Kontakte.
Der Umfang der in den Akten erhaltenen Quellen ist abhängig von der Anstalt, aber auch vom einzelnen Patienten. Beispielsweise gab es in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eine Prosektur (heute spricht man von Pathologie oder Sektionsraum), in der die innere Leichenschau vorgenommen wurde. Noch heute sind in den meisten Krankenakten die Sektionsbefunde erhalten, die eine Deutung des Todes sehr erleichtern. Auch ist für diese Anstalt genau dokumentiert, welcher Patient Opfer der Entzugskost geworden ist.
Wenn man das erste Mal eine alte Krankenakte liest, ist man häufig erschrocken. Die Sprache wirkt sehr abwertend und es ist für einen Laien meist schwer zu entscheiden, was so gemeint war und was nicht. „idiotisch“ war beispielsweise ein gängiger Fachbegriff, „lebensunwert“ oder „asozial“ dagegen nicht und spiegeln die ideologische Einstellung der Ärzte wider.
Häufig fragen Angehörige, was eine Diagnose bedeutet und ob man aus der Akte ablesen kann, ob die Diagnose zu Recht gestellt worden ist. Da die Diagnosen für eine Beurteilung, ob jemand ein Opfer wurde oder nicht, nur eine geringe Rolle spielten, ist die Validität, also die Gültigkeit nicht von hoher Relevanz. Wenn es Ihnen aber sehr wichtig ist, eine Einschätzung zu bekommen, dann sollte das am besten ein Psychiater tun. In den Krankenakten gibt es häufig eine Anamnese, ausführliche Fragebögen,und gerade in den 1920er Jahren auch häufig recht ausführliche Einträge, so dass solch eine Einschätzung in etlichen Fällen gegeben werden könnte.
In den Krankenakten finden sich auch Angaben zu therapeutischen Maßnahmen. Eine Insulinschocktherapie klingt für Angehörige häufig verstörend bis erschreckend. Dabei handelt es sich um eine gängige Behandlungsmethode bei Schizophrenie und zeugte von einem gewissen therapeutischen Interesse am Patienten.